Mit den Händen heilen

Menschen brauchen Berührungen für ihre körperliche und seelische Gesundheit. Lutz Keller aus Köthen ist Tantramasseur. Wie er mit seiner Arbeit Menschen dabei helfen kann, Stress abzubauen und Traumata zu überwinden.

Während der Tantramassage

Von Almut Hartung und Silvia Kücken

Eine Frau liegt auf dem Bauch, gebettet auf Tüchern, die mit Blumen bedruckt sind. Sie atmet langsam ein und aus, erwartet gespannt die nächste Berührung. Nur ihre Hüften sind mit einem dünnen dunkelblauen Tuch bedeckt. Lutz Keller sitzt zu ihren Füßen, auch er ist nackt. Sie sind Fremde, und trotzdem sind sie sich nah und werden sich im Verlauf der nächsten zwei Stunden noch sehr viel näher kommen. Er hebt das Stofftuch an, zieht es quälend langsam von ihrem Körper, bis nur noch ein Hauch der Fransen, kaum intensiver als ein Luftzug, auf ihrer Haut zu spüren ist. Auf ihrem Körper stellen sich die feinen Härchen auf: an den Armen, dem Rücken und der Rückseite ihrer Beine. Diese Berührungen sind Teil einer Tantramassage.

Lutz Keller ist einer von etwa 100 zertifizierten Profi-Tantramasseuren in Deutschland. Auch wenn es zunächst so anmutet, ist die Tantramassage keine rein erotische Massage. Laut dem deutschen Tantraberufsverband soll sie ein gutes Körpergefühl, Lebensfreude, Energie, Selbstbestimmtheit und Selbstakzeptanz fördern. Anders als Tantra, eine esoterische Strömung der hinduistischen Religion, kommt die Tantramassage nicht aus Indien, sondern wurde seit den 1980er- Jahren in Deutschland entwickelt.

Vertrauen ist wichtig

Es ist früher Nachmittag, etwa 30 Minuten vor dem Beginn der Massage. Lutz Keller sitzt der brünetten Frau auf dem weichgepolsterten Sofa in seinem Wohnzimmer gegenüber. Alles an ihm strahlt Vertrauen aus. Seine blauen Augen ruhen hinter einer runden roten Brille, blicken direkt und aufmerksam. Mit ruhiger Stimme fragt er: „Warum sind Sie heute hergekommen?" Nach anfänglichem Zögern berichtet sie von dem Wunsch die Massage einmal auszuprobieren, weil sie neugierig sei und Stress reduzieren wolle. Keller nickt verständnisvoll. In der nächsten halben Stunde spricht er mit ihr darüber, wo sie nicht berührt werden möchte, und erklärt, wie sie reagieren kann, sollte sich etwas nicht gut anfühlen. Dieses Gespräch ist wichtig, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.

Grafik-Rezeptoren

Zu Beginn des Massagerituals stehen sich der Masseur und seine Gästin im Obergeschoss der Maisonettewohnung gegenüber, gekleidet in blauen Lungis, dünnen Strandtüchern, die Keller zur Verfügung gestellt hat. Es ist warm in dem kleinen Raum, um die 26 Grad. Die Luft ist erfüllt vom Duft des Kokosöls, das in Wasserschalen am Rand des Massagebereichs erwärmt wird. Teelichter tauchen die roten Wände in flackerndes Licht, im Hintergrund erklingt instrumentelle indische Musik, wie im Yoga-Studio. Die Hände des Masseurs sind weich und warm. „Es ist schön, dass du heute hier bist, um dieses Ritual gemeinsam mit mir zu erleben", eröffnet Lutz Keller die Massage. Die Frau schließt die Augen. Mit sanften Berührungen der Fingerspitzen streicht Lutz Keller ihr über Arme, Rücken, Gesäß und Beine. Schließlich umschließt er sie in einer engen Umarmung, wiegt sie langsam hin und her. Sie fühlt sich sicher und geborgen, obwohl sie und er sich an diesem Tag zum ersten Mal begegnet sind. Was für die meisten ungewohnt sein mag, ist für die Frau angenehm.

 

Massage kann mehr als gedacht

Dass die Berührungen von Lutz Keller wohltuend wirken, ja sogar bei Heilungsprozessen unterstützen können, erlebt der 58-Jährige mit dem kahl rasiertem Kopf und den gepflegten Händen regelmäßig - bei sich selbst und bei seinen Kunden, die er Gäste nennt. Zu ihm kommen Frauen und Männer mit ganz unterschiedlichen Erwartungen: Manche sehnen sich nach Berührungen, die sie im Alltag nicht bekommen. Andere wollen sich einfach besser fühlen - so wie eine Krebspatientin, die dem Rat ihrer Ärztin folgend zwischen zwei Zyklen ihrer Chemotherapie zu ihm kam, um ihre Krankheit für eine kurze Zeit vergessen zu können. Auch für die Behandlung von Traumata wird diese Massage inzwischen eingesetzt. So habe ein Gast auf seine Frage geantwortet: "Bei mir gibt es einen Missbrauchshintergrund, mein Psychologe riet mir zur Tantramassage mit einem Masseur."

Keller selbst fand nach dem Tod seiner Frau zu seiner ersten Tantramassage, die er als unbeschreiblich schön beschreibt. „So, wie sie für mich gewesen war, wollte ich sie andere Menschen weitergeben." Dafür hat er eine Profiausbildung als Tantramasseur absolviert.

Die mindestens eineinhalbjährige Ausbildung nach den Kriterien des Deutschen Tantraverbandes beinhaltet Seminare, Übungsmassagen und schließt mit je einer zweistündigen theoretischen und einer praktischen Abschlussprüfung ab. Seit 2019 bietet Lutz in Köthen und Leipzig Tantramassagen an, im Nebenberuf. Denn eigentlich arbeitet er als Verwaltungsfachwirt im Landratsamt in Köthen. Er kennt die Vorurteile und erteilt ihnen eine Abfuhr: „Die Tantramassage ist ein umfangreiches Verehrungsritual, bei dem der gesamte Körper berührt und massiert wird. Es gibt vom Beginn bis zum Ende eine klare Rollenverteilung zwischen Masseur und Gast", erklärt Keller. "Der Masseur gibt Berührung, der Gast empfängt diese." Dieses absichtslose Geben und Empfangen - für ihn sei es ein Ausgleich zu seiner Arbeit als Kopfmensch, bei der er funktionieren müsse. Damit Geld zu verdienen, sei ihm nicht wichtig.

Mit seinen Berührungen aktiviert Lutz Keller Millionen von Sinneszellen in den Hautschichten, die diese Reize verarbeiten und sie im Bruchteil einer Sekunde über das Rückenmark ins Gehirn leiten. Dort sorgen sie für die Ausschüttung von Bindungs- und Glückshormonen wie Oxytocin und Serotonin, die den Blutdruck senken, Stress reduzieren und die Atmung beruhigen, wie Martin Grunwald, Wahrnehmungspsychologe und Tastsinnexperte aus Leipzig, in seinem 2017 erschienenen Buch „Homo Hapticus - Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können" beschreibt.

Berührungsmangel schadet

Dass ein Mangel an Berührungen negative Folgen für die Gesundheit haben kann, bestätigt Tastsinnexperte Grunwald. "Für Menschen, die alleine leben, aber nicht alleine leben möchten, kann die Corona-Zeit richtig schlimm sein. Für sie ist kein Kraut gewachsen. Es sei denn, man kauft sich ein Haustier", erklärt er. Denn zwischen den Berührungen von Haustieren und Menschen gebe es in Sachen Hormonausschüttung keine großen Unterschiede.

Nachdem Lutz Keller während der Coronapandemie seine Dienstleistung lange nicht anbieten konnte, hätten inzwischen alle Stammkunden Termine vereinbart, sagt der Masseur. Überrascht hat ihn das nicht. Er findet: „Wir leben in einer berührungsarmen Gesellschaft. Viele Menschen nehmen sich nicht die Zeit für Berührungen." Eine zweistündige Massage kostet etwa 200 Euro. Ein Preis, den seine Kunden gern bereit sind zu zahlen.

 

Lange oder kürzere Massagen

Beinahe 90 Minuten sind seit dem Beginn der Massage vergangen. Die junge Frau liegt nun auf dem Rücken. Mit seinen Händen verteilt Lutz Keller das erhitzte Kokosöl auf der Haut ihres Bauches, der Oberschenkel, der Arme, regt mit geübten Bewegungen jede Nervenzelle an. Als er fertig ist, ist ihr Körper von den Zehenspitzen bis zum Haaransatz mit Wärme und Energie erfüllt. Lutz Keller bedeckt sie wieder mit dem Lungi und lässt sie zum Ausklang der Massage etwa 15 Minuten mit geschlossenen Augen liegen. „Während der Massage werden die Gesichtszüge weicher", berichtet Lutz Keller. „Schaut man im Nachgespräch in die Augen der Gäste, dann strahlen sie klar. Der Blick ist tief und entspannt."

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90 Minuten sind eine lange Zeit für eine Massage. Vielleicht zu lang? Ja, sagt Martin Grunwald. Laut dem Haptikexperten ist solch eine lange, intensive Massage viel zu anstrengend für den Organismus. Studien der Massageforschung hätten ergeben, dass häufigere, kürzere Massagen eher einen positiven Effekt erzielten, sagt der Psychologe.

Trotz allem: Im Nachgespräch mit Lutz Keller wird die junge Frau sagen, dass sie sich seit Jahren nicht mehr so erholt und gut gefühlt habe.

Hilfe bei Berührungsmangel - Das sagen die Experten

Was kann man zu Hause tun, falls man unter einem Mangel an Berührungen leidet? Lutz Keller empfiehlt ein Selbstlieberitual vor dem Spiegel: "Betrachten Sie sich täglich morgens nackt in einem Spiegel gründlich vom Kopf bis zu den Füßen. Nehmen Sie dabei keine Bewertungen oder Kritik vor,  sondern begrüßen Sie sich mit den folgenden Worten: Guten Morgen, ich freue mich, dich zu sehen und begrüße dich von ganzem Herzen und mit viel Liebe."

Ein zweiter Vorschlag des Tantramasseurs ist eine gegenseitige Massage ohne Sex: "Bereiten Sie in einem warmen Raum - nicht im Bett- bei etwa 25 Grad aus Decken, Kissen, Stoffen und einer wasserfesten Unterlage ein kleines Massagelager auf dem Boden vor. Dazu kann man mit einer Vase mit frischen Blumen, schöner Musik und Kerzen eine gute Stimmung im Raum kreieren. Etwaige Störungen sollten in den nächsten 1,5 Stunden ausgeschlossen sein. Die Partner verabreden sich zu einer gemeinsamen Zeit des Spürens, nackt und bitte ohne nachfolgenden Sex." Dafür bedürfe es  keiner Erfahrungen im Massieren. Berührt würden alle Körperteile - "es sei denn, es wird zuvor etwas ausgeschlossen." Wer von beiden beginnt, den Partner mit warmen Öl zu verwöhnen (das geht auch mit Babypuder), kann vorher entschieden werden, sagt Keller. "Es folgt nach 25 Minuten ein Wechsel zwischen gebender und empfangender Person. Zum Abschluss kann gemeinsam nachgespürt werden. Hilfreich ist auch ein kurzes Feedback danach, wie jeder das gerade Erlebte empfunden hat."

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Sinn und Wirklichkeit

Wie blickt man auf den menschlichen Körper, wenn man ihn mit seinen Händen und dem Tastsinn heilen kann? Nimmt man die Welt anders wahr, wenn man besonders sensible Geschmacksknospen hat? Und wie fühlt es sich an, wenn man sein Leben der flüchtigen, unsichtbaren Welt der Düfte verschreibt?

Die Volontärinnen und Volontäre der Mitteldeutschen Zeitung haben sich in ihrem diesjährigen Projekt mit den menschlichen Sinnen beschäftig – und Menschen aus Sachsen-Anhalt ausfindig gemacht, die aufgrund ihrer Wahrnehmung ganz besondere Fähigkeiten haben. Entstanden ist dieses multimediale Projekt.