Schluck um Schluck

Ein Sommelier aus dem Landkreis Wittenberg hat sich mit dem Coronavirus infiziert. Wie er sich nach und nach seinen Geschmackssinn zurück erkämpft.

Frische Lebensmittel schmecken

Von Paul Damm und Phillip Kampert

Es ist ein Tag wie jeder andere. René Wippich sitzt an einem Tisch in Köln, vor dem Sommelier aufgereiht mehrere Weinproben zur Verkostung. Für den 53-Jährigen, der eigentlich einen feinen Gaumen besitzt, keine große Herausforderung. Er greift nach dem ersten Glas, schwenkt die rubinrote Flüssigkeit und hält seine Nase tief hinein - und riecht nichts. Anders als sonst vernimmt er keine floralen, fruchtigen, würzigen oder rauchigen Aromen. Er setzt zum üblichen Geschmackstest an. René Wippich nimmt einen kleinen Schluck, kaut ihn wieder und wieder mit seiner Zunge durch, um die Aromen des kräftigen Rotweines freizusetzen. Doch er schmeckt nichts, einfach gar nichts. „Zuerst habe ich vermutet, dass es vielleicht ein nicht sehr aussagekräftiger Wein ist“, erklärt der Sommelier, der in Kemberg im Landkreis Wittenberg geboren und aufgewachsen ist. Er schenkt sich daraufhin einen starken Kräuterschnaps ein, um sicherzugehen, dass er wirklich noch etwas schmecken kann. „Nichts - da war null Geschmack“, sagt er. Ihm fährt der Schreck durch die Glieder. Er bricht die Verkostung ab, weil er ahnt, sich mit dem Coronavirus infiziert zu haben. Das Ergebnis des PCR-Tests am Abend bestätigte seine Vermutung: Er war Covid-19-positiv.

Ab sofort Logistiker

Die Corona-Infektion brachte das Leben des Sommeliers schlagartig durcheinander. Im Kölner Prüflabor „Sensetory“, wo er zwei- bis dreimal pro Woche alkoholische Genussmittel auf ihre Qualität testet, stand Wippich als Experte ab diesem Zeitpunkt, also ab Mitte November, nicht mehr zur Verfügung. Schließlich konnte er durch seinen Geruchs- und Geschmacksverlust die einzelnen Produkte, die nach streng definierten Kriterien analysiert werden, nicht mehr bewerten.
Jedoch rutscht der gebürtige Kemberger nicht in die Arbeitslosigkeit. Denn im Unternehmen übernimmt er zusätzliche logistische Aufgaben. Er packt die Produkte der Lieferanten aus und trägt spezifische Produktinformationen zu den edlen Tropfen in eine Tabelle ein: Angaben zu Jahrgang, Region beziehungsweise das Land, in dem der Wein angebaut wurde. „Das ist insofern wichtig, weil unsere Verkoster mit diesen Daten arbeiten“, erklärt der gelernte Restaurantfachmann, der nicht nur im damaligen Kempinski-Hotel in Leipzig, sondern auch mehrere Jahre in einem Luxushotel in der Schweiz und in England arbeitete. Zudem absolvierte Wippich mit der Sommelier Union mehrere Weinpraktika auf Weingütern in aller Welt und leitete ab 2011 die Weinabteilung im Frankfurter Feinkostmarkt „Frischeparadies.“

Sommelier René Wippich. Foto: Andreas Stedtler

In seinem derzeitigen Beruf bei „Sensetory“ kümmert er sich auch um die Durchführung von Verkostungen: Er bereitet die Proben vor, die unter anderem von Winzern, Sommeliers, Weinakademikern und Önologen (Kellermeistern) getestet wurden. Anhand dieser verteilen die Experten Punkte nach vier Kategorien: Aussehen, Duft, Aromen und Geschmack. Im Anschluss daran wird der jeweilige Artikel auf einer international etablierten Bewertungsskala eingeordnet. „Unsere sensorische Prüfung ist kein Muss - das gibt der Gesetzgeber nicht vor. Dennoch setzen die Unternehmen auf unsere Expertise, um ihre Produkte zu optimieren und anzupassen“, erklärt René Wippich.

 

Kampf um Geschmackssinn

An diesen Tests kann Wippich aufgrund seiner Corona-Erkrankung nicht mehr teilnehmen: Auch nach der Infektion kehrten sein Geruchs- und Geschmackssinn nicht zurück. Mit dieser Tatsache wollte er sich jedoch nicht abfinden. Daher begann er direkt nach seiner Corona-Diagnose, seine Rezeptoren auf der Zunge sowie seinen Geruchssinn zu trainieren. „In der Küche habe ich mit vielen Aromen experimentiert“, erklärt er. Die Anfänge waren allerdings ernüchternd. Der Wein schmeckte weder fruchtig noch würzig, der Apfel weder süß noch sauer, die Kräuter, die er zum Kochen verwendete, wirkten fade. Trotzdem hoffte er, dass sich sein Zustand bald wieder bessern würde; täglich suchte er neue Anreize für seine Sinne.

Er schnitt frische Erdbeeren, Äpfel und auch exotische Früchte auf, spielte mit verschiedenen Gewürzen, die er in einem Mörser zermahlte. Aus Erfahrung wusste Wippich: „Durch Reiben und Zerteilen der Produkte kommt die ganze Wucht der Aromen zum Vorschein.“ Täglich roch er an den Lebensmitteln, verkostete sie in der Hoffnung, irgendetwas zu riechen oder zu schmecken. Und tatsächlich: An einem Abend im Januar nach mehreren frustrierenden Wochen konnte er zum ersten Mal wieder einen Geruch wahrnehmen. „Die Nelke war das erste Gewürz, das ich wieder riechen konnte“, erklärt Wippich. Für ihn war das damals ein unglaubliches Glücksgefühl. Bei dieser Erinnerung strahlen noch heute seine Augen. Das ermutigte ihn zu weiteren Experimenten in seiner heimischen Kühe. Bereits kurz darauf konnte er Fenchel und Zimt mit seinen Sinneszellen erfassen. Nach und nach wurden es immer mehr.

Sein HNO-Arzt, den Wippich in diesen dunklen Wochen regelmäßig konsultierte, riet ihm, mit genau diesem Training fortzufahren, um nach dem Geruchssinn auch die Geschmacksnerven anzuregen. Zwar könne man auch mit synthetischen Aromen arbeiten, aber diese seien nicht so wirksam wie natürliche Aromastoffe, die in Kräutern, Gewürzen, Blumen oder Obst- und Gemüsesorten vorkommen.

Dass Wippich nach zwei bis drei Monaten wieder etwas Riechen und Schmecken kann, ist erfreulich, denn es kann bei Menschen, die am sogenannten „Post-Covid-19-Syndrom“ leiden, oft etliche Monate dauern, bis diese Sinne zurückkommen - teilweise kommen sie gar nicht mehr wieder. Wie Stefan Schreiber, Direktor der Klinik für Innere Medizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein und Leiter einer nationalen Populationsstudie zur Pandemie erklärt, dass mehr als zehn Prozent der Infizierten an Spätfolgen leiden, wobei die Symptome und deren Stärke variierten. Neben Erschöpfungserscheinungen und dem Verlust von Geschmacks- und Geruchssinn weisen Betroffene oft Schlafstörungen und Auffassungsstörungen auf, wüssten also beispielsweise plötzlich nicht mehr, was sie gerade machen wollten. Über Genesungschancen und die genauen Gründe für das „Post-Covid-Syndrom“ herrsche noch keine Klarheit. „Forschung braucht Zeit“, sagt Schreiber.

Auf Anraten seines Arztes setzte Wippich die Geschmacksübungen fort und begann zum ersten Mal, auf der Arbeit Blindproben zu verkosten. Eine sogenannte Blindprobe erhalten die Experten immer vor einer Qualitätsuntersuchung, um ihre Sinne zu schärfen. Sie bekommen genau drei schwarze Gläser; zwei Weine davon sind identisch, sie müssen den sogenannten „Piraten“ erschmecken. Im Mai ist das René Wippich zum ersten Mal seit seiner Covid-19-Erkrankung wieder gelungen. Für den Sommelier ist das ein großer Erfolg.

Wie kommt der Geschmack in die Zunge?

Stellen Sie sich den Biss in einen frischen Apfel vor. Lecker, oder? Aber wie kommt dieser markante süß-saure Geschmack vom knackigen Fruchtfleisch „in“ unsere Zunge?
Erwachsene haben etwa 10.000 Geschmacksknospen auf ihrer Zunge, die ein bisschen aussehen wie winzige Tulpenzwiebeln, die in der Zunge vergraben sind. Darin befinden sich die Sinneszellen, etwa 50 Stück pro Knospe. Wenn ein Geschmacksträger vom Speichel aufgenommen wird und zur Geschmacksknospe gelangt, senden die Sinneszellen ein Signal ans Gehirn. Dabei werden verschiedene Geschmäcker in unterschiedlichen Teilen der Zunge stärker oder schwächer erkannt.
In der Schule lernt man in der Regel, dass die Zunge fünf verschiedene Geschmacksarten wahrnehmen kann: süß, salzig, sauer, bitter und umami, also Würzgeschmack. In der Forschung wird aber diskutiert, ob die Zunge zum Beispiel auch den Geschmack von Fett, Metall oder Wasserartigem erkennen kann. Hier ist die Fachwelt sich noch uneins.

Gedanken über Zukunft

Noch immer, nach mehr als einem halben Jahr seit seiner Covid-Erkrankung, hat René Wippich allerdings seinen vollumfänglichen Geruchs- und Geschmackssinn nicht zurück. Außerdem leidet er an mentalen Erschöpfungsschüben - eine Spätfolge seiner Corona-Erkrankung. Gedanken hat sich der Wahlkölner bisher nicht gemacht, was das für seine berufliche Zukunft bedeuten würde. „Ich wäre natürlich eingeschränkt. Aber ich glaube nicht, dass ich meinen Arbeitsplatz verlieren würde. Mein Arbeitgeber steht voll hinter mir und unterstützt mich“, konstatiert Wippich. Doch als Sommelier dürfte es für ihn schwierig werden - in die Gastronomie möchte er nämlich nicht zurück. Vorstellen könne er sich, wieder in seine Heimat zurückzukehren - nicht unbedingt nach Kemberg, aber Leipzig oder Halle kämen für ihn in Frage. „So weit bin ich jetzt noch nicht“, sagt René Wippich und betont: „Ich habe immer noch die Hoffnung, dass ich meinen Geschmackssinn vollständig zurückerlange und ich wieder so arbeiten kann wie zuvor.“ Gelegentlich greift der 53-Jährige zu Hause in sein Weinregal, um einen guten Roten ganz allein für sich zu verkosten - mit kleinen Genießerschlucken zurück zur Normalität.

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Sinn und Wirklichkeit

Wie blickt man auf den menschlichen Körper, wenn man ihn mit seinen Händen und dem Tastsinn heilen kann? Nimmt man die Welt anders wahr, wenn man besonders sensible Geschmacksknospen hat? Und wie fühlt es sich an, wenn man sein Leben der flüchtigen, unsichtbaren Welt der Düfte verschreibt?

Die Volontärinnen und Volontäre der Mitteldeutschen Zeitung haben sich in ihrem diesjährigen Projekt mit den menschlichen Sinnen beschäftig – und Menschen aus Sachsen-Anhalt ausfindig gemacht, die aufgrund ihrer Wahrnehmung ganz besondere Fähigkeiten haben. Entstanden ist dieses multimediale Projekt.