Die flüchtige Welt der Düfte
Sven Pritzkoleit ist als Parfümeur ein Meister der Aromen. Seine Kreationen erfüllen jeden Atemzug und werden doch kaum wahrgenommen. Warum der Geruchssinn trotz dieser Vergänglichkeit der Schlüssel zu unseren Erinnerungen ist.
Von Annette Schmidt, Babett Gumbrecht und Jakob Milzner
Sven Pritzkoleits Reich der Düfte befindet sich in einer Seitenstraße. Gleich um die Ecke des Marktplatzes der Elbestadt Barby. In dem recht nüchternen Labor der ehemaligen Apotheke in der er und seine Mutter noch vor wenigen Jahren Medikamente verkauften, stellt er heute seine außergewöhnlichen Kreationen her. Wer die Räume betritt, wird überrascht von dem, was ihm als Erstes in die Nase steigt: Nichts. Man riecht einfach nichts. Oder besser gesagt, nicht das, was man erwarten würde. Die Luft ist nicht schwer von einem wilden Duftcocktail aus Blumen-, Moschus- oder Zitrusdüften, wie man ihn aus Parfümerien kennt. Durch die gut gelüfteten Räume weht nur ein dezenter Hauch von Birne.
Das Reich der Düfte
Der 51-jährige Parfümeur hat 2019 für sein Parfum „Powder & Dust“ mit dem „Art and Olfaction Awards“ einen der renommiertesten Preise der Branche gewonnen. Dass er es einmal so weit bringen würde, ist für ihn noch immer keine Selbstverständlichkeit. Denn die Welt der Gerüche ist unendlich weit. Eine amerikanische Studie belegt 2014, dass die menschliche Nase aufgrund ihrer 30 Millionen Riechzellen eine Billion Gerüche wahrnehmen und unterscheiden kann.
Laut deutschem Verband der Riechstoffhersteller gibt es jedoch weltweit lediglich rund 2.000 Menschen, die diese Welt durch ihren Beruf als Parfümeure beherrschen. Für diese Profession gibt es in Deutschland keine geregelte Ausbildung. Um den Bedarf zu decken, bilden große Kosmetik- und Duftstoffhersteller ihre Parfümeure selbst aus. Wer eine Schule besuchen will, wird erst in Frankreich fündig. Das Auswahlverfahren an den ältesten Parfüminstituten der Welt ist knallhart. Von mehreren hundert Bewerbern werden jedes Jahr nur zwei bis drei für die vierjährige Ausbildung ausgewählt. Ihre Nasen werden darauf trainiert, Düfte nicht nur zu unterscheiden, sondern zu beschreiben. Sven Pritzkoleit, einer von Deutschlands besten Parfümeure, ging jedoch einen Weg abseits der üblichen Ausbildungswege.
In der DDR aufgewachsen, kam dem damals 16-Jährigen Mitte der 80er Jahre nicht in den Sinn, den Beruf des Parfümeurs zu erlernen. Stattdessen studiert er Pharmazie in Halle. Zuvor leistet er seinen Grundwehrdienst bei der NVA. Dort findet er in der Bibliothek ein Buch, das - wie er sagt - sein Leben verändert hat. Der Titel des Romans: „Das Parfüm. Die Geschichte eines Mörders.“ Das Buch weckt seine Neugier und Leidenschaft für die Welt der Düfte und Parfüme. So beginnt er, parallel zu seinem Studium und später zur Arbeit in der Apotheke, sich über zehn Jahre lang autodidaktisch die Welt der Parfümerie zu erschließen.
Ein Garten für die Sinne
Ein Ausflug ins Grüne kann für unseren Körper wahre Wunder bewirken. Aber man muss nicht unbedingt weit wegfahren. Auch der eigene Garten kann uns beruhigen und unsere überlasteten Sinne wieder schärfen. Welche Pflanzen sich dafür eignen weiß Gartentherapeutin Joana Obenauff.
Warum sind unsere Sinne im Alltag überlastet ?
Weil sie evolutionsbiologisch mit einer natürlichen Belastungsgrenze ausgestattet sind. Unsere moderne Welt überforderte unsere Sinne oft, da sie mehr Sinnesreize bietet, als wir auf natürliche Weise in der Lage sind, zu verarbeiten.
Warum hilft uns ein Ausflug in die Natur ?
Fern ab von unseren Alltagsreizen bekommen unsere Sinne in der Natur die Möglichkeit, innerhalb ihrer natürlichen Kapazität zu arbeiten. Hier gibt es nur natürliche Reize wie Vogelgezwitscher, Blätterrauschen oder Insektensummen. Unser Gehirn, das jeden Sinnesreiz verarbeitet, wird entlastet und Stress kann abgebaut werden.
Welche Pflanzen würdest du empfehlen für einen Garten der Sinne?
Ob Bäume, Stauden oder Gräser, sie alle bieten durch ihre unterschiedlichen Strukturen, Formen, Farben, Düfte und Geschmäcker sinnvolle Erfahrungen. Nur auf stark giftige Pflanzen sollte verzichtet werden.
In dem Laboratorium in Barby im Salzlandkreis stehen wie brave Soldaten unzählige kleine Fläschchen aufgereiht. Sie sind teilweise mit unaussprechlichen Wörtern etikettiert. „Ein guter Parfümeur verführt mit etwas Neuem, in dem der Kunde aber etwas Vertrautes findet“, sagt der Mann mit den zum persönlichen Markenzeichen gewordenen Hosenträgern und der Harry-Potter-Brille. Sein preisgekröntes Parfüm etwa baut auf den vertrauten Düften von Birne und Puder auf.
Dieses „Vertraute“ erlernen Menschen bereits in den ersten Lebensjahren, erklärt Professor Hanns Hatt, Experte auf dem Gebiet der Geruchsforschung. Jeder von uns habe Erinnerungen an Gerüche seiner Kindheit, so der Wissenschaftler der Ruhr-Universität in Bochum. Und da Geruch und Geschmack eng miteinander verknüpfte Sinne sind, seien viele frühe Erinnerungen mit Speisen verbunden. 80 Prozent des Geschmacks kommt über die Nase. Für Sven Pritzkoleit sind es die Gerüche der böhmischen Küche seiner Oma wie Grießbrei oder Semmelknödel mit Gulasch, aber auch der Geruch der Apotheke seiner Eltern.
Von allen Sinnen ist der Geruchsinn der direkteste. Durch die Atemluft strömen Duftmoleküle über Riechepithel und Nervenimpulse geradewegs in die stammesgeschichtlich ältesten Bereiche des Gehirns, dem limbischen System und dem Hippocampus. Das sind jene Teile des Gehirns, in denen unsere Emotionen, Triebe und Erinnerungen sitzen.
Wenn Sven Pritzkoleit sich einen Duft erdenkt, hat er entweder einen Rohstoff im Kopf, den er interessant findet. Oder eine Idee von irgendetwas, wie das Bild eines Silbersees im Mondschein. Dann sucht er sich in seinem Geist die dazu passenden Aromen. Dabei ist er nicht im Labor, denn die Rohstoffe kennt er alle, ähnlich wie ein Komponist seine Noten. Er arbeitet mit 300 bis 400 vorwiegend natürlichen Rohstoffen und schätzt, dass er mehr als 2.000 kennt, unterscheiden und beschreiben kann.
Laut den Forschungen des 74-jährigen Hanns Hatt riechen wir nicht jede Einzelne der Billionen Gerüche, sondern stets Kombinationen. Der Geruch eines Parfüms besteht etwa aus 150 Einzelkomponenten. Der Professor hat festgestellt, dass sich die Riechzellen in der Nase jeden Monat regenerieren. Eine Besonderheit, die sich so nur noch beim Geschmackssinn finden lässt.
Die eigene Handschrift finden
Als Parfümeur „muss man das Handwerk erlernen, um Kunst schaffen zu können“, sagt Pritzkoleit. Es gehe darum, eine eigene Handschrift zu finden. Das brauche Zeit. Im Alltag bedeutet das für ihn, täglich zwischen zwei und drei Stunden mit Riechtraining zu verbringen. So steht Pritzkoleit bewaffnet mit einem Arsenal von „Mouillettes“ - das sind Riechstreifen - einsam in seinem Kämmerchen und riecht. Er habe mit einfachen Mischungen begonnen, oft aus Interesse an einzelnen Riechstoffen. Dann versuchte er, bekannte Düfte nachzubauen, so wie Kunststudenten vielleicht versuchen, im Stil von van Gogh zu zeichnen. „Weil das tatsächlich trainiert und natürlich ein knallharter Vergleich ist.“ Ähnlich erlernen und sammeln Babys lange vor der Geburt über das Fruchtwasser und die Nabelschnur der Mutter ihre ersten Geruchserfahrungen. So ist es für Professor Hatt wenig überraschend, wenn Mütter erzählen, dass ihre Kinder eine Vorliebe für bestimmte Speisen haben, die sie während der Schwangerschaft gegessen hatten.
Ab einem Alter von etwa drei bis vier Jahren können kleine Kinder Gerüche, wie in einen Apothekerschrank bewusst je nach Intensität und Erfahrungen zuordnen und kategorisieren. Je vertrauter ein Geruch ist, desto stärker sind die Verknüpfungen. Dieser Effekt, kann laut Hatt mit einem bestimmten Verhalten verbunden werden. Ein besonderer Geruch, wie Rosenduft im Schlafzimmer versprüht, kann mit Schlafen assoziiert werden.
In der persönlichen Handschrift des Parfümeurs ist sehr oft die Note eines seiner Lieblingsdüfte, dem Patchouli, enthalten, einem erdig holzig-herben Duft. Aber ganz besonders liebt er es, unvereinbare Gegensätze miteinander zu kombinieren. Wie in seinem Hyrax-Parfüm. Es beinhaltet den getrockneten, streng animalisch riechenden Kot des namensgebenden afrikanischen Tieres, der an Raubtierkäfige im Zoo denken lässt. Der Gegenpol dazu ist der lieblich zarte - und vertraute - Duft türkischer Rosen.
Pritzkoleit beobachtet in der Parfümszene einen neuen Trend hin zum sogenannten Layering. Anders als in Roman von Süßkind gibt es bei den modernen Parfümen keine Kopf- oder Herznoten. Heutzutage verändern sich die Düfte nach dem Auftragen nicht mehr oder nur sehr wenig. „Der Duft riecht am Anfang weitestgehend wie am Ende.“ Langweilig wird die Welt der Gerüche für Sven Pritzkoleit wohl nie werden, aber er gibt zu, dass sie langsam enger wird. Es gibt nicht mehr viel, was er noch nicht kennt, dabei findet er Neues gerade spannend.
Sinn und Wirklichkeit
Wie blickt man auf den menschlichen Körper, wenn man ihn mit seinen Händen und dem Tastsinn heilen kann? Nimmt man die Welt anders wahr, wenn man besonders sensible Geschmacksknospen hat? Und wie fühlt es sich an, wenn man sein Leben der flüchtigen, unsichtbaren Welt der Düfte verschreibt?
Die Volontärinnen und Volontäre der Mitteldeutschen Zeitung haben sich in ihrem diesjährigen Projekt mit den menschlichen Sinnen beschäftig – und Menschen aus Sachsen-Anhalt ausfindig gemacht, die aufgrund ihrer Wahrnehmung ganz besondere Fähigkeiten haben. Entstanden ist dieses multimediale Projekt.