Von Glocken und Maschinen

Wie Akustik-Ingenieure Autos zum Schnurren bringen und warum Lärm nicht nur für Menschen, sondern auch für Maschinen schädlich ist.

Glocken Kopie (1)

Von Kristina Hammermann, Robert Martin und Anika Würz

Das erste, womit uns ein neuer Morgen erwartet, ist gemeinhin akustischer Natur: das Klingeln des Weckers. Und auch der Rest eines jeden Tages besteht aus unzählbar vielen Geräuschen: vom Röcheln der betagten Büro-Kaffeemaschine bis zum dreisten Sirrton einer Sommerabendmücke. Solche Töne, Klänge, Geräusche umgeben uns ständig, doch oft unbeachtet. Anders ist es bei Jochen Bauer: Der Gesamtfahrzeugakustiker hört sie alle, und schenkt noch dem leisesten Fahrzeuggeräusch seine vollste Aufmerksamkeit.

Qualität hören

Der gebürtige Hallenser hat während seines Studiums der Elektrotechnik als Praktikant in einer Karlsruher Firma gearbeitet, die sich der Frage „Können wir die Qualität von Gegenständen über ihre Akustik ermitteln?“, widmete. Und der heute 54-Jährige hat schnell bemerkt, wie viel Freude ihm die Suche nach der Antwort macht.

Das Thema für seine Abschlussarbeit sprang den selbsterklärten Audiophilen aus der Zeitung heraus an: Der Klang der Glocken neu gebauten Frauenkirche in Dresden war „verdorben“, diese mussten daraufhin neu gegossen werden. Doch warum haben sie so schief geklungen? Bauer führte Klanguntersuchungen an den Glocken durch, um zu erfahren, wo der Fehler lag.

Eine Tasse sei ja eigentlich nichts anderes als eine Glocke im Kleinformat, sagt Bauer. Er nimmt das hübsch geblümte Porzellangefäß, aus dem er eben noch Kaffee geschlürft hat, zur Hand sowie einen metallenen Teelöffel. „Wenn ich die Tasse hier anschlage“, sagt er und schlägt den Löffel leicht gegen die Seite der Tasse, „ist der Ton anders als direkt gegenüber des Henkels.“ Schlägt er sie nämlich dort an, klingt der Ton ein wenig höher und deutlicher, gleichzeitig aber auch gedämpfter.

Was der Laie schwer in Worte fassen kann, beschreibt Bauer mit präzisen Begriffen. Er spricht von einem Asymmetrie-Effekt, der auch bei den Frauenkirche-Glocken Probleme verursacht hatte. „Es waren die Verzierungen an der Glocke“, erläutert er das damalige Problem.

Nach dem Studium setzte Bauer seine Karriere als „Spezialist für Gesamtfahrzeugakustik“ bei einem großen deutschen Automobilhersteller in der Nähe von Halle fort. Denn was bei Glocken gilt, trifft auch bei Autos zu: Anhand des Klangs kann die Qualität von Fahrzeugteilen gemessen werden.

Inzwischen arbeitet Bauer in einer anderen Abteilung. In den zwölf Jahren als Gesamtfahrzeugakustiker bestand sein Job darin, bei Testfahrten und in speziell konstruierten schalltoten Räumen auf unerwünschte Motorgeräusche von Brummen über Vibrieren bis Heulen zu achten.

Ein Raum absoluter Stille

Das Lärmen einer Maschine ist folglich einzudämmen. Doch dazu muss es zunächst ganz genau analysiert werden, und das geschieht in einem sogenannten schallreflexionsarmen Raum, wie er sich auch auf dem Südgelände der Universität Erlangen befindet. Den außergewöhnlich stillen Ort haben Schlücker und Kollegen selbst entworfen und konstruiert, um darin Maschinengeräusche „in Ruhe“ zu messen und anschließend auszuwerten.

Bereits beim Betreten des Raumes fällt der Effekt auf: Die Ohren nehmen deutlich weniger auf, dazu kommt ein leichtes Schwindelgefühl. Die Wände reflektieren extrem wenig Schall, daher fehlt die akustische Orientierungsmöglichkeit, die uns im gewohnten Umfeld gegeben ist. Als der Professor das erklärt, erklingen seine Worte verändert - direkter, ohne Widerhall. Treffen Schallwellen auf die speziell gefertigten Dämmelemente, die die Wände abdecken, werden sie dort gebrochen. „Wir nehmen dem Schall seine Energie“, erklärt Schlücker.

Obwohl der Raum jedes Geräusch verschluckt, ist die absolute Stille darin kein Selbstzweck. Ganz im Gegenteil: Hier wird Klangforschung betrieben. „Zum Beispiel haben wir mal an Hörgeräten geforscht. Dazu haben wir Kunstköpfe mit den Geräten an verschiedenen Stellen im Raum platziert“, sagt Schlücker. Anschließend seien unter anderem Windgeräusche erzeugt worden. So wollten die Wissenschaftler herausfinden, was das Hörgerät wahrnehmen und weitergeben kann, und was nicht. Auch das Brummen eines E-Bike-Motors war schon Teil der Untersuchungen im schallarmen Raum.

Mit der Autoindustrie arbeiten die Forscher in Erlangen ebenfalls häufig zusammen. „Aktuell versuchen wir, die Strömungsgeräusche von Seitenspiegeln zu reduzieren“, sagt der Professor. Schwarze, stromlinienförmige Gebilde innerhalb des reflexionsarmen Raumes deuten auf die Untersuchungen hin. Die Seitenspiegel werden mit Luft angeblasen, die den Fahrtwind imitieren soll. Verschiedene Mikrofone nehmen die entstehenden Geräusche auf. Im Folgenden werden die Daten von speziellen Computern ausgewertet und die Forschenden ziehen Schlüsse daraus: Wie muss der Spiegel geformt sein, um optimal - also ohne großartige Geräusche zu erzeugen - umströmt zu werden?

Seltene Hörauszeiten

Ob bei Maschinen oder anderswo: Lärmreduktion interessiert auch Gesamtfahrzeugakustiker Jochen Bauer - und das nicht nur beruflich. Auch privat achtet er darauf, seinem Gehör nicht unnötig viel zuzumuten. „Es gibt ja fast keine Stille mehr“, sagt er. Dabei sei er „extrem geräuschempfindlich“.

Klar: Er musste jahrelang feinste Nuancen aus Motorengeräuschen heraushören können - sein sogenanntes selektives Gehör ist fantastisch trainiert. Ein Beispiel: Hat Bauer mit anderen seines Fachs in einem Auto gesessen, analysierten die Experten das Blubbern, Knallen und Spratzeln des Fahrzeugs wie Sommeliers einen Müller-Thurgau. „Ich höre ganz anders“, sagt er zu Recht.

Und weil sie so selten sind, schätzt Bauer Hör-Auszeiten. „Ich gehe jeden Abend eine Stunde an der Saale spazieren“, sagt der Hobby-Ornithologe und fügt hinzu, dass er es währenddessen schätzt, wenn es eben nicht ganz geräuschlos zugeht, sondern er dem Vogelgezwitscher lauschen kann. Absolute Stille - wie im reflexionsarmen Raum - wäre nämlich auch nicht gerade entspannend.

Die Quintessenz daraus ist auch sein Ratschlag an alle, die Lärm in ihrem Leben verringern wollen, egal ob mit oder ohne Saale. Der Trick dabei: die eigene Klangumgebung aktiv mitzugestalten. Klingt einfach, erfordert aber auch viel Bewusstsein für den so allgegenwärtigen Hörsinn.

Die Sprache der Maschinen

Weniger mithilfe der eigenen Ohren, dafür mit umso präziseren Analysegerätschaften, achtet auch Eberhard Schlücker ganz besonders auf die Geräuschkulisse von Maschinen. „Akustik ist ein großes Thema für die Zukunft. Jeder möchte in einer angenehmen und ruhigen Welt leben“, erklärt der Professor für Prozessmaschinen und Anlagentechnik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

„Man muss erkennen, was in der Maschine den Lärm erzeugt und überlegen, wie diese Maschine besser gestaltet wird, damit sie eben nicht mehr so laut ist. Das ist ein großes Thema, das in vielen Lebensbereichen eine Rolle spielt. Etwa in Industriebetrieben geht der Lärm auf die Psyche der Menschen.“ Regelrecht auf den Nerv, sozusagen.

Aber was ist überhaupt Lärm? Bei einem Presslufthammer dürften sich die meisten einig sein, dass dieser Lärm produziert. Was die Musik der Band Rammstein angeht, scheiden sich die Geister. Was empfinden wir also als Krach? „Lärm sind kleine mechanische Stöße, die etwas anregen und ein Geräusch diskontinuierlich machen“, antwortet der Professor in wissenschaftlichem Duktus. Soll heißen: Neben der Lautstärke machen Unregelmäßigkeiten und das Abweichen von Harmonien Lärm aus. Was Rammstein angeht, mag jeder für sich entscheiden, ob es sich nun um Krach handelt.

Fakt ist jedenfalls: Ein hoher Schallpegel macht krank. Die menschliche Schmerzgrenze, die laut dem Umweltministerium bei einer Lautstärke von 130 Dezibel liegt, wird bei lauten Maschinen schnell erreicht. Wenige wissen wiederum, dass Lärm nicht nur für den Menschen, sondern auch für die Maschinen selbst fatal sein kann. „Lärm ist die Sprache der Maschinen“, erklärt Schlücker und fügt an: „Wir müssen lernen, sie zu verstehen.“

Eine unnatürlich lärmende Maschine weise häufig auf Verschleiß, einen geringeren Wirkungsgrad und Reparaturbedürftigkeit hin. Schlücker verbildlicht: „Schwingungen nagen an Maschinen wie Karies an den Zähnen - und produzieren Lärm.“ Will man den Gerätschaften Gefühle zuschreiben, könnte man also sagen, sie „schreien“ vor Schmerz - und nach Aufmerksamkeit.

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Sinn und Wirklichkeit

Wie blickt man auf den menschlichen Körper, wenn man ihn mit seinen Händen und dem Tastsinn heilen kann? Nimmt man die Welt anders wahr, wenn man besonders sensible Geschmacksknospen hat? Und wie fühlt es sich an, wenn man sein Leben der flüchtigen, unsichtbaren Welt der Düfte verschreibt?

Die Volontärinnen und Volontäre der Mitteldeutschen Zeitung haben sich in ihrem diesjährigen Projekt mit den menschlichen Sinnen beschäftig – und Menschen aus Sachsen-Anhalt ausfindig gemacht, die aufgrund ihrer Wahrnehmung ganz besondere Fähigkeiten haben. Entstanden ist dieses multimediale Projekt.