Ich sehe was, was du nicht siehst

Man hört mit den Ohren und sieht mit den Augen. So weit, so klar, oder? Weit gefehlt: Hannah Ewald ist Synästhetin. Sie kann Wahrnehmungen verknüpfen und so Töne und Emotionen wie Bilder visualisieren.

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Von Franz Ruch und Jessica Vogts

Wenn Hannah Ewald ein Konzert besucht, ist es ein bisschen so, als wäre sie in ihrem eigenen Kinofilm. Wo andere die Musik nur hören können, sieht sie die Klänge. Und das nicht nur in ihrer Vorstellung, sondern ganz so, als würden sie tatsächlich sichtbar in der Luft schweben. Mal in Grün, mal in Violett, mal als raue Welle und mal als weicher Nebel. Die farbigen Formen und Texturen kommen aus den Lautsprechern, von den Instrumenten und vom applaudierenden Publikum. Sie sind in Bewegung, umgeben die 34-Jährige, kommen auf sie zu und fließen an ihr vorbei. „Ich sehe die Schallkegel, und ich sehe, wie der Schall sich bricht“, sagt sie.

Wie sie die Klänge sieht, kann sie steuern, wie beim Blick durch verschiedenartige „Brillen“. „Wenn ich einem Ensemble zuhöre, können das zum Beispiel die einzelnen Instrumente sein. Dann werden zum Beispiel alle Celli gelb“, sagt sie. Der Blick durch eine andere Brille visualisiert die Harmonien, färbt Tonarten oder Melodien in einzelne Farben ein. Und wieder eine andere Brille zeigt jeden getroffenen und nicht getroffenen Ton. „Das ist meine ,Absolut-Hören-Brille’“, sagt sie. Bewusst dazwischen wechseln, könne sie noch nicht. „Aber ich freue mich darauf, wenn ich es weiter erforschen kann.“

Farbiges Hören

Für Hannah Ewald ist diese Art der Wahrnehmung nichts Besonderes, denn sie kennt es nicht anders. Die in Leipzig lebende studierte Musikerin ist, wie schätzungsweise vier Prozent der Menschheit, von Geburt an Synästhetin. Durch eine besondere neurologische Struktur im Gehirn ist sie dazu in der Lage, mehrere Wahrnehmungsebenen miteinander zu verbinden und die Eindrücke zu verarbeiten. „Man kann sich das vorstellen, wie ein Aufklapp-Bilderbuch für Kinder. Wenn man die Seiten aufschlägt, liegen sie nicht nur da, sondern springen einem entgegen“, sagt Hannah Ewald. So fügt sich zu jeder Wahrnehmungsebene weitere hinzu.

Synästhesie-Formen gibt es zahlreiche. Mehr als 80 sind wissenschaftlich untersucht und immer wieder werden neue Arten entdeckt. Hannah Ewald kann Klänge als farbige Formen mit unterschiedlichen Texturen und Strukturen sehen, das „Farbige Hören“. Sie nimmt außerdem Berührungen erweitert wahr, „wie auf einem zweiten Bildschirm, der dreidimensional im Raum schwebt und Tiere, Pflanzen oder Landschaften zeigt“, sagt sie.

Eine weitere Form ist die sogenannte Gefühls-Synästhesie. Hannah Ewald nimmt emotionale Zustände von sich oder anderen farbig und als Form wahr. Welche Farben und Formen sich zeigen, sei dabei immer unterschiedlich, abhängig von Person und Gefühl. Wut könne beispielsweise eine Wolke sein, die über dem Kopf von jemandem schwebt.

In einem Fall, als Hannah Ewald eine solche Wolke gesehen hat, schwebte sie als blau-lila Blase über dem Kopf eines Bekannten. Für sie war das ein Zeichen unausgesprochener Gefühle: „Ich habe gemerkt, dass ich es total anstrengend finde, wenn die Person das nicht anspricht, denn ich sehe die Emotionen ja.“ Als Hannah Ewald ihren Bekannten mit der Wut konfrontiert hat, wanderte die Wolke vom Kopf in den Körper. „Vermutlich, weil sich die Person dann mit dem Gefühl auseinandersetzt und die Emotion anders verkörpert wird.“

 

Schon in Kindheit gemerkt

Obwohl Hannah Ewald schon ihr ganzes Leben lang synästhetisch wahrnehmen kann, ist sie sich dessen erst seit ein paar Jahren richtig bewusst. Mit 26 hatte sie ein Bekannter, der im Studium zufällig von Synästhesie gehört hatte, über das Phänomen aufgeklärt. Mit der Erkenntnis, dass Synästhesie wissenschaftlich anerkannt ist und nachweisbare neurologische Grundlagen hat, hat sich für sie eine neue Welt eröffnet. Die war zwar vorher auch schon immer da, wurde aber lange Zeit unterdrückt. „Als Tochter von zwei Psychologen hatte ich früher immer große Angst, verrückt zu sein“, sagt Hannah Ewald. So hätte sie zwar schon früh gemerkt, dass ihre Wahrnehmung sich von der anderer Kinder unterscheidet, doch einordnen konnten sie es nicht.

Orientierung im Alltag

Caroline Beier möchte mit Vorurteilen aufräumen und Wissen vermitteln. Sie kommt aus Hamburg, ist Allgemeinmedizinerin und Vorsitzende der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft.

Was ist Synästhesie?
Synästhesie ist eine Form der Wahrnehmung, bei der verschiedene Gehirnareale miteinander in Verbindung stehen. Alles, was im Kopf abläuft, wird mit einer Zusatzfunktion verknüpft, etwa Farben mit Tönen, Buchstaben oder Zahlen.

Ist Synästhesie eine Krankheit?
Nein. Eine Krankheit hindert oder stört einen primär. Das ist hier nicht der Fall. Kaum einer möchte seine Synästhesie loswerden. Im Gegenteil: Es macht die Persönlichkeit aus. Oft dienen synästhetische Wahrnehmungen unbewusst als Erinnerungshilfe und Orientierung im Alltag.

Kann man diese Fähigkeit erlernen?
Auch das ist nicht möglich. Es ist eine erbliche Veranlagung. Man wird damit geboren oder eben nicht. Bei vielen zeigt sich die Synästhesie aber erst spät, weil man als Kind die Dinge noch nicht direkt deuten kann.

Wie viele Synästheten gibt es?
Etwa vier Prozent der Gesamtbevölkerung hat eine Form von Synästhesie.

Wie viele verschiedene Synästhesie-Arten gibt es?
Schätzungsweise gibt es mindestens 80 verschiedene Formen. Sehr häufig dabei sind: die Klang-Farb-Synästhesie, das farbige Hören oder die Graphem-Farb-Synästhesie.

Was ist die Deutsche Synästhesie Gesellschaft?
Seit 2005 dient die Deutsche Synästhesie Gesellschaft als Anlaufstelle für jeden Betroffenen. Regelmäßig werden Treffen organisiert. Wir wollen uns untereinander vernetzen und auf die Synästhesie in der Öffentlichkeit aufmerksam machen.

Bei manchen Dingen, wie zum Beispiel Malen oder Gedichte schreiben, sei ihre ausgeprägte Kreativität gelobt worden. Aber wenn es um „ernsthafte Dinge“, wie etwa Klavierspielen ging, habe ihre eigene Wahrnehmung im Weg gestanden. „Ich wurde auch nicht danach gefragt“, sagt sie. So unterdrückte Hannah Ewald oftmals ihre Synästhesie – mit spürbaren Folgen. „Ich hatte dann immer Probleme mit Drehungen. Es war, als ob mir Orientierung im Raum fehlt.“ Wo sie ihre besonderen Sinne allerdings nie unterdrücken konnte, sei bei Livemusik gewesen. „Da war einfach zu viel los, da habe ich schon immer ganz viel gesehen.“

Mit dem Wissen um das Phänomen Synästhesie kam dann auch der Kontakt zu anderen Synästheten. Hannah Ewald ist in die Deutschen Synästhesie-Gesellschaft eingetreten und konnte sich dort endlich austauschen. „Mit anderen ins Gespräch zu kommen, hat mir geholfen, mich nicht die ganze Zeit selbst zu zensieren“, sagt sie. Als sie sich bewusst erlaubt hat, auf ihre Weise wahrzunehmen, kam die Erleichterung. Plötzlich seien auch Drehungen kein Problem mehr gewesen: „Ich konnte mich auf einmal im Raum orientieren. Jetzt drehe ich mich gerne.“

Noch viel zu entdecken

Zu welchen Synästhesie-Formen Hannah Ewald noch Zugang hat, erforsche sie im Alltag. „Je mehr ich es erforsche und zulasse, desto mehr Sicherheit bekomme ich. Da ist noch ganz viel Potenzial zu entdecken“, sagt sie. So gebe es immer noch Bereiche in ihrem Leben, die sie noch nicht mit ihrer eigenen Wahrnehmung erobert habe.

In ihrem Beruf als Chorleiterin habe sie beispielsweise noch nicht den vollen „synästhetischen Zugang“, könne die Visualisierung von Tönen noch nicht steuern oder die „Brillen“ ihrer Wahrnehmung bewusst wechseln. „Vermutlich, weil ich den Beruf noch als zu ,ernst’ wahrnehme“, sagt sie. Doch Hannah Ewald ist zuversichtlich, auch diesen Bereich ihres Lebens, für ihre individuelle Wahrnehmung öffnen zu können.

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Sinn und Wirklichkeit

Wie blickt man auf den menschlichen Körper, wenn man ihn mit seinen Händen und dem Tastsinn heilen kann? Nimmt man die Welt anders wahr, wenn man besonders sensible Geschmacksknospen hat? Und wie fühlt es sich an, wenn man sein Leben der flüchtigen, unsichtbaren Welt der Düfte verschreibt?

Die Volontärinnen und Volontäre der Mitteldeutschen Zeitung haben sich in ihrem diesjährigen Projekt mit den menschlichen Sinnen beschäftig – und Menschen aus Sachsen-Anhalt ausfindig gemacht, die aufgrund ihrer Wahrnehmung ganz besondere Fähigkeiten haben. Entstanden ist dieses multimediale Projekt.